OB Noerenberg im Gespräch mit der SWP...
08. Juni 2019, 05:40Uhr
Lesen SIE bitte die SWP...
Der Kommentar in der SWP trifft genau unsere Meinung!
Kommentar der SWP:
Politisch
und emotional
Matthias Stelzer
Foto: Marc Hörger
wie Brexit oder Nuxit. Die beiden gekreuzten Linien stehen in beiden Fällen für lange Debatten, komplexe Verhandlungen, vor allem aber für Trennendes. Scheidendes.
Dabei sollte die Entscheidung, wie die Stadt Neu-Ulm, der gleichnamige Landkreis und die Region Donau-Iller künftig verwaltet werden, eigentlich eine langweilige Sache sein. Ein Fall für Verwaltungsfachleute und Juristen, könnte man annehmen. Eine Einschätzung, an der wohl auch die Kreisfreiheits-Kämpfer um Neu-Ulms Oberbürgermeister Gerold Noerenberg (CSU) scheiterten.
So es nach dem hilflosen und teils absurden Verfahren auf der britischen Insel überhaupt noch eines Belegs bedurfte, wurde er in Neu-Ulm erbracht: Trennungen wecken Emotionen. Deshalb muss, wer ein solches Anliegen voranbringen will, auch Gefühle ansprechen.
Statt die Bürgerschaft zu gewinnen, setzte Noerenberg zu sehr auf die spröde Kraft seiner vom Landkreis angezweifelten Berechnungen. Er fuhr eine wenig gewinnende Strategie zwischen Rechthaberei und unterschwelligen Vorwürfe gegen den Neu-Ulmer Landrat Thorsten Freudenberger (CSU).
Kein verwalterisches Kleinklein
Der Nuxit lähmte die gesamte sachpolitische Arbeit im Landkreis. Bei Parteiversammlungen und in Fraktionssitzungen taten sich die Gräben zwischen Befürwortern und Gegnern der Kreisfreiheit immer weiter auf. Stillstand statt Zukunftsstrategien. In der CSU-Kreistagsfraktion isolierte sich Noerenberg zusehends, ritt verbal gegen das Verbindende von Stadt und Landkreis und stimmte schließlich sogar einsam gegen den Kreisetat.
Ein politisches Problem, das Innenminister Joachim Herrmann (CSU) jetzt politisch abräumte. Der richtige Schritt, auch wenn Gerold Noerenberg mit der „Beliebigkeit der Politik“ hadert und die Begründung seines Münchner Parteifreundes unter dem Niveau eines „mittelmäßigen Juristen“ verbucht.
Die Zukunft der Gemeinden, Städte, Länder und Staaten liegt abseits des verwalterischen Kleinkleins. Die erwünschte Gleichheit der Lebensbedingungen, die erhofften gemeinsamen Lösungen für drängende Problem erreicht man nicht durch formale Abgrenzung von Zuständigkeitsbereichen. Bei den zurückliegenden Europa-Wahlen haben deshalb gerade jüngere Leute ihr X ganz anders eingesetzt: als Stimme für das Verbindende.
„In zehn Jahren ist Neu-Ulm kreisfrei“
Stadtentwicklung Oberbürgermeister Gerold Noerenberg über den gescheiterten Nuxit, Fakten und Emotionen in der Politik – und warum er sich auf seinen Rückzug aus dem Rathaus im nächsten Jahr freut. Von Christoph Mayer und Michael Janjanin
Nachdenklich und dennoch im Angriffsmodus: Gerold Noerenberg kritisiert die „Beliebigkeit der Politik“.
Foto: Lars Schwerdtfeger
um Interview im Neu-Ulmer Rathaus erscheint OB Gerold Noerenberg verspätet. Schuld ist die Deutsche Bahn. Die Rückfahrt von Dortmund, wo er mit Stadträten zwei Tage auf dem Deutschen Städtetag weilte, war ein Desaster. Zugausfall, per S-Bahn nach Essen, weiter in überfüllten Zügen und zum Schluss das Verkehrschaos in Ulm. Einen wie Noerenberg bringt das natürlich nicht aus der Ruhe, auch wenn er von einer „Irrfahrt“ spricht. Apropos Irrfahrt: War auch der Nuxit, der von Neu-Ulm angestrebte und krachend gescheiterte Ausstieg aus dem Landkreis eine? Der OB verneint. Die Richtung stimme, das Ziel bleibe.
Ein paar Tage nach dem klaren Aus für den Nuxit: Hat sich Ihre erste Wut gelegt?
Man wollte den Nuxit aus politischen
Gründen nicht.
Gerold Noerenberg: Ich hatte keine Wut. Da musste sich nichts legen. Ich war allenfalls enttäuscht, dass der Freistaat Bayern klare Spielregeln für den Austritt einer Stadt aus einem Landkreis aufstellt, diese Regeln dann aber selbst nicht einhält. Wobei meine persönliche Enttäuschung nebensächlich ist.
Es geht Ihnen um die Sache.
Ich gehe
nicht als
Sonnenkönig.
Ich halte es auch unter staatstheoretischen Gesichtspunkten für problematisch, erst Kriterien für einen Kreisaustritt aufzustellen und ihn dann abzulehnen – obwohl Neu-Ulm alle Kriterien für eine Kreisfreiheit erfüllt. Und dass wir die Voraussetzungen erfüllen, war ja nie strittig. Nach meinem Demokratieverständnis müsste der Landtag nun das Gesetz ändern und sagen: Es reicht nicht aus, dass eine Stadt mehr als 50 000 Einwohner hat, um selbstständig zu werden.
Warum ist der Nuxit gescheitert?
Weil die Landräte auf die Landtagsabgeordneten – ich sage es mal freundlich – erheblich Einfluss genommen haben. Weil man in München Sorge hatte, dann weitere Fälle zu schaffen. Was meines Erachtens relativ unwahrscheinlich gewesen wäre, zumindest in den nächsten fünf Jahren. Man wollte es aus politischen Gründen nicht.
Sie kommen vom Städtetag in Dortmund, der unter dem Motto „Zusammenhalt der Städte“ stand. Der Freistaat hat sich im Falle Neu-Ulms eben für einen Zusammenhalt von Stadt und Landkreis ausgesprochen.
Die wenigen Zeilen der Begründung in der Presseerklärung des Innenministeriums sind erschütternd. Jeder mittelmäßige Jurist hätte eine bessere Begründung schreiben können. Die Aussage ist nämlich nur: Wir wollen es nicht. Allein die Behauptung, die Krankenhausfinanzierung wäre im Falle einer Loslösung der Stadt vom Kreis nicht gesichert gewesen, ist hanebüchen. Wir hatten dem Landkreis im Vorfeld mehrere Angebote unterbreitet, wie man die Krankenhausfinanzierung regeln könnte. Selbst Landrat Thorsten Freudenberger hatte da nicht widersprochen.
Verstehen Sie diese politische Entscheidung?
Ich beobachte diese Entwicklung nicht nur im Freistaat. Diese Beliebigkeit der Politik ist auch auf Bundesebene zu sehen. Da gibt es gewisse Trends, Einflüsse, Strömungen. Und schon ignoriert man geflissentlich Bedingungen, die man selber gesetzt hat, weil man glaubt, dass dies jetzt gerade nicht opportun ist. So kann man aber auf Dauer nicht Politik machen.
Hadern Sie mit Ihrer CSU?
(Pause, dann grinsend) Wieso? Meine CSU hat mich immer gut unterstützt.
Haben Sie im Verlauf des Nuxit-Prozesses vielleicht den Fehler gemacht auszublenden, dass es letztlich auf eine politische Entscheidung hinauslaufen könnte?
Eine gute Frage, setzt sie doch voraus, dass es andernfalls zur Entscheidung für die Kreisfreiheit gekommen wäre. Ich hoffe, nein, ich bestehe darauf, dass wir vom Innenministerium eine ausführliche Begründung bekommen. Dann kann man darüber diskutieren, ob wir in der Vorbereitung Fehler gemacht haben. Aber wenn das Nein zur Kreisfreiheit eine rein emotionale Entscheidung war, dann kann man uns keine Fehler vorwerfen. Das Gesetz sieht keine Emotionen vor. Es gibt klare Tatbestandsvoraussetzungen und daraus Rechtsfolgen. Zumindest habe ich das an der Uni mal so gelernt.
Vielleicht hätte es geklappt, wenn Sie die Menschen mitgenommen hätten. Mit einem Neu-Ulmer Bürgervotum pro Kreisfreiheit im Rücken hätte sich München womöglich schwerer getan, den Nuxit zu verweigern.
Es ist eine böswillige Unterstellung zu behaupten, wir hätten die Menschen nicht eingebunden. Wir haben par excellence Bürgerbeteiligung betrieben. Wir haben in der ersten Runde unter anderem drei große Veranstaltungen gemacht, das Edwin-Scharff-Haus war gut gefüllt. Dort haben wir die Thematik dargestellt. Wir haben zum Abschluss einen Workshop gemacht – der Neutralität wegen mit fremden Moderatoren. Wir haben jeden Wahlberechtigten zweimal angeschrieben, etwa 40 000 Briefe verschickt. Zum Workshop kamen dann letztlich etwa 250 Bürgerinnen und Bürger.
Warum kein Bürgerbegehren?
Unsere Anwälte kamen in wesentlichen Punkten zur selben Erkenntnis: Ein Bürgerbegehren ist nicht zulässig. Sie können mich jetzt als trockenen Juristen beschimpfen. Aber ich bin eben keiner, der dann sagt: Weil Druck da ist, geb‘ ich nach und initiiere mal auf die Schnelle ein Bürgerbegehren – das dann rechtlich doch keine Auswirkungen gehabt hätte.
Die Bürgerinitiative gegen den Nuxit hat Emotionen geweckt. Die Befürworter der Kreisfreiheit haben im besten Fall Interesse geweckt. Würden Sie bei einem nächsten Versuch mehr auf Emotion setzen?
Das ist gefährlich. Sollen wir mit Emotionen Politik machen? Wollen wir, dass der, der am lautesten schreit, am emotionalsten ist, bekommt, was er will? In Deutschland gab es so eine Zeit mal, das war fatal. Das Thema Kreisfreiheit eignet sich auch nicht für Emotionen. Es geht da um ganz trockene Verwaltungsorganisation. Es ist nicht sexy, ein Gymnasium oder den ÖPNV zu verwalten.
Empfinden Sie das Scheitern des Nuxit als persönliche Niederlage?
Nein. Das war kein Antrag von mir und die Entscheidung wurde von einer breiten Mehrheit des Stadtrates getroffen.
Inwiefern hängt Ihr für 2020 angekündigter Rückzug aus der Politik damit zusammen?
So gut sollten Sie mich kennen: Es gibt keinen Zusammenhang. Ich mache jetzt seit über 20 Jahren Politik in und für Neu-Ulm. Wenn es mir in Sachen Kreisfreiheit um meine persönliche Befriedigung ginge, dann würde ich nochmal antreten und in den nächsten sechs Jahren . . . Denn das hab‘ ich dem verehrten Minister auch gesagt: Mit der Entscheidung, nichts zu entscheiden, wird das Problem nicht gelöst, es wird vertagt. So wie es ausschaut, wird Neu-Ulm weiter wachsen. Wir haben jetzt über 60 000 Einwohner, laufen auf die 65 000 zu.
Wird Neu-Ulm klagen?
Können Sie mir sagen, wie man gegen eine Presserklärung klagt? Wenn wir eine ordentliche Begründung bekommen, werden wir uns diesen Bescheid ohne Zorn anschauen. Ob wir dann dagegen juristisch vorgehen, ist eine Entscheidung des Stadtrates.
Trotz Kreisangehörigkeit will der Landkreis der Stadt künftig mehr Eigenständigkeit zugestehen. Wie stellen Sie sich das vor?
Das müssen Sie den Landrat fragen. Herr Freudenberger hat ja schon in der Vergangenheit gesagt, man könne der Stadt Zugeständnisse machen. Aber auf meine konkrete Frage zum ÖPNV, um nur ein Beispiel zu nennen, habe ich bis heute keine Antwort erhalten. Die von uns bisher als freiwillige Leistung bezahlten Buskilometer reicht der Kreis beim Freistaat ein, um ÖPNV-Zuschüsse zu bekommen. Das ist nicht rechtswidrig. Aber wenn man sich vergegenwärtigt, dass etwa die Hälfte aller ÖPNV-Leistungen des Landkreises aufs Stadtgebiet entfallen, dann könnte man ja auch sagen, dass es gerecht wäre, wenn wir die Hälfte der ÖPNV-Zuwendungen des Kreises bekommen. Da bin ich mal gespannt, was jetzt für Vorschläge kommen.
Der Nahverkehr ist die größte Baustelle?
Ich nenne Ihnen noch ein Problem: Weil wir als kreisangehörige Stadt nur ein Planungsgebiet für den Landkreis sind, können wir nicht zielgerichtet soziale Leistungen in den Stadtteilen steuern.
So wie in Ulm.
Ja, dort ist die Planung an Stadtteilen orientiert und nicht an der Gesamtstadt. Denn der Eselsberg hat andere Probleme als die Innenstadt. Wir haben an der Caponniere Schwierigkeiten mit Jugendlichen, vorwiegend Migranten, die dort ihren Testosteronüberschuss abarbeiten, weil ihnen langweilig ist, weil sie nicht arbeiten dürfen – alles verständlich. Der Stadtrat kam zur klugen Erkenntnis, dass Streetwork dort nicht schlecht wäre. Aber dummerweise müssen wir das beim Landratsamt beantragen. Als Stadt können wir es nur als als freiwillige Leistung anbieten, die wir nicht finanziert bekommen. Und es ärgert mich schon, wenn wir freiwillig Aufgaben übernehmen und dann seitens des Landkreises bei der Genehmigung des Haushalts den Hinweis bekommen, sparsamer bei den freiwilligen Leistungen zu sein.
Kurze Antwort: Wo sehen Sie Neu-Ulm in zehn Jahren?
Als kreisfreie Stadt. Aus den Zwangsläufigkeiten, die ich genannt habe, wird es nicht anders funktionieren können.
Ist Ihr Verhältnis mit Landrat Freudenberger zerrüttet?
Nein! Wir haben nur unterschiedliche Auffassungen. Dass er uns nicht verlieren will, weil er dann einen kleineren Landkreis hat, kann ich nachvollziehen. Ich habe mich nur über gewisse Dinge geärgert. Wenn er etwa behauptet hat, er müsse wegen der Kreisfreiheit die Kreisumlage erhöhen. Das ist schlichtweg falsch. Er muss die Kreisumlage wegen eines 15-Millionen-Defizits bei den Krankenhäusern erhöhen, das seit Jahren vor uns hergeschoben wird.
Die Neu-Ulmer FDP findet, Sie hinterlassen einen Scherbenhaufen und fordert Sie auf, sofort ihren Hut zu nehmen. Was sagen Sie denen?
Gar nichts. Wenn ich mir den Scherbenhaufen anschaue, wie Neu-Ulm jetzt dasteht und wie es vor 24 Jahren dastand, dann glaube ich: Selbst wenn man den Noerenberg nicht mag, ist der Vergleich daneben. Ich hinterlasse kein Paradies und ich gehe nicht als Sonnenkönig. Es gibt noch genug Arbeit. Aber ich glaube, wir haben die Stadt gut entwickelt. Und das schmerzt mich dann schon, weil es die gemeinsame Leistung des Stadtrats und des OBs war. Alle wichtigen Entscheidungen für die Stadt sind immer mit breiter Mehrheit getroffen worden.
Sind Sie angesichts solcher Vorwürfe froh, im nächsten Jahr einen Schlussstrich zu ziehen?
Will man diesen Job richtig machen, geht das nicht allein mit 60 Stunden Wochenarbeitszeit. Sondern man braucht einen inneren Antrieb. Ich habe diesen Antrieb noch. Aber irgendwann fragt man sich eben auch, ob der Holzvorrat für dieses Feuer, das man braucht, wirklich noch so groß ist, dass es für sechs weitere Jahre reicht. Meine Frau hat, bedingt durch mein politisches Engagement, auf sehr vieles in ihrem Leben verzichten müssen. Ich habe das Glück, eine glückliche Ehe zu führen und ich habe meiner Frau versprochen, sie noch möglichst lange ein bisschen zu ärgern. Und dann kommen Sie irgendwann zum Schluss, dass es auch für die Stadt gut ist, wenn man nach 18 Jahren an der Spitze aufhört. Ich merke auch: Die Jungen denken anders. Es ist an der Zeit zu sagen: Da muss jetzt jemand Neues ran. Und ich freue mich auf den neuen Lebensabschnitt. Ich habe daheim stapelweise Bücher, die ich lesen will. Ich komme bisher einfach nicht dazu. Mein Frau hat mir jetzt zwar schon zweimal den Loriot-Film „Papa ante portas“ gezeigt. Aber das müssen wir dann privat miteinander ausmachen.
Zur Person
Karriere Gerold Noerenberg ist der Stadt, in der er am 19. Mai 1957 geboren wurde, treu. Er hat sie nur für das Jura-Studium in Augsburg verlassen. Mit seiner Frau, der Rechtsanwältin Cornelia Bögle-Noerenberg, führte er jahrelang eine gemeinsame Kanzlei. 2002 wurde er zweiter Bürgermeister unter OB Beate Merk. Politisch war Noerenberg schon lange vorher aktiv. Er kam über die Junge Union zur CSU, wurde 1996 in den Stadtrat gewählt und war von 1999 bis 2002 Fraktionsvorsitzender. 2004 wurde er zum Oberbürgermeister gewählt, 2008 im ersten Wahlgang mit 57,6 Prozent bestätigt. Seine letzte Wahl im März 2014 gewann er äußerst knapp mit nur 100 Stimmen Mehrheit.